"Jedes Werk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand - durch
Katastrophen, die aus dem chaotischen Gebrüll der Instrumente zum Schluss
eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik heisst. Werkschöpfung ist
Weltschöpfung." Wassily Kandinsky in "Rückblick"






Von der Fläche zum Raum


Zu den PapierobjektenWassily Kandinsky liebte das Pathos und war in seiner Wortwahl alles andere als zurückhaltend. Deshalb sei das, was er als Katastrophe empfunden hat, dahin gestellt. Ob er Probleme wie sie Reinhard Wöllmer mit der Materialbeschaffung während eines Auslandsstipendiums in Mazedonien hatte, überhaupt kannte, ist eher zu bezweifeln. Aber für einen Künstler, der sich zum Arbeiten in ein anderes Land begibt, könnte sich Papierknappheit durchaus als Katastrophe erweisen. Das "chaotische Gebrüll der Instrumente" würde unter diesen Umständen nur aus der Erinnerung erklingen, aber dafür um so lauter. Dass aus diesem Defizit für Reinhard Wöllmer dennoch der Anfang einer neuen Epoche wurde, in der sich das "chaotische Gebrüll der Instrumente" allen Widrigkeiten zum Trotz langsam zu einer "Symphonie" steigerte, ist einem alten Handwerk zu verdanken: Aus der Not eine Tugend machend, begann Wöllmer seine Papiere selbst zu schöpfen. Es dauerte nicht lange, bis ihm klar wurde, dass er durch diese Entscheidung ein Mittel gefunden hatte, das Inhalt und Form auf geradezu wundersame Weise zusammenbringen kann.
Das geschah dies nicht ganz von selbst und auch nicht ohne Umwege. So bemalte er zunächst die gewalzten Papiere, bis er begriff, dass gerade in deren natürlichen Beschaffenheit ein grosses Ausdruckspotential steckt. Von da ab rührte er die Pigmente direkt in die Masse ein und gab dieser mittels Schablone die gewünschte Form. Weil aber Papier, das aus Masse gewalzt wird, eine sehr lebendige Oberflächenstruktur hat, führt es sozusagen von selbst von der Fläche weg in den Raum hinein. Aus den ersten Ringformen wurden Kreisüberschneidungen und aufgeklappte oder aufgefächerte Kreissegmente bis Wöllmer dann eine Technik entwickelte, die dem Treiben von Kupferplatten ähnlich ist. Er bringt die Papiermasse wie eine Oblate auf einen Stein auf, walzt sie zur gewünschten Grösse aus und treibt sie dann bis sie sich wölbt, so dass aus der flachen Scheibe ein Kugelsegment wird. In dessen Zentrum schneidet er grössere oder kleinere Löcher, setzt Ringe oder weitere Scheiben ein oder auf, verdoppelt den plastischen Körper und erhält auf diese Weise Raumformen, in denen sich Farbe im Licht- und Schattenspiel in all ihren Facetten entfalten kann.
Reinhard Wöllmers Anliegen ist immer ein Malerisches. Alle Entscheidungen sind durch die Frage nach der Wirkung der Farbe bestimmt. Deshalb öffnet er die durch die Technik des Zusammenfügens zweier gewölbter Körper entstehenden Innenräume im Zentrum. Dann betont er diese dunkle Mitte durch einen abgetönten, helleren Innenkreis. Diesen lässt er im Laufe der Zeit durch unterschiedliche Positionierung in Bezug zum Mittelpunkt für das Auge scheinbar in Bewegung geraten, so dass die folgende ovalförmige Öffnung schliesslich wie eine selbstverständliche Konsequenz aus der Bewegung der Kreisform erscheint.


Farbkontraste und formale Spannungen


Wenn man bedenkt, das Reinhard Wöllmer alle künstlerischen Entscheidungen vom Standpunkt des Malers aus trifft, erscheint es ganz selbstverständlich, dass sich aus dem Spiel von Licht und Schatten, von Hell und Dunkel und von Ton in Ton auch der Wunsch nach Farbkontrasten ergeben hat. Ein weiterer folgerichtiger Schritt in dieser Entwicklung ist die Änderung der formalen Beziehungen zwischen Aussen- und Innenform. Weil er aber das Stadium des einfachen formalen Gleichgewichts bereits überschritten hatte, kam das Quadrat, das dem geschlossenen Kreis in der Geometrie als vergleichbare Flächenkonstruktion am nächsten steht, nicht in Frage. Hatte er doch längst die Verzerrung der Form, wie sie der wandernde natürliche Schatten hervorbringt, als Kontrast und Spannung stiftendes Mittel erkannt. Auf diese Weise hatte sich in seinem Werk der Kreis zum Oval gewandelt. In der Folgezeit schneidet Wöllmer aus dem plastischen Körper, der aus zwei getriebenen Scheiben aus pigmentierter Papiermasse besteht, ein Rechteck aus und setzt darauf eine entweder an einer Ecke angeschnittene oder im Ganzen verzerrte Rechteckform, die als Farbkontrast aus dem Dunkel der Schattenzone auftaucht. Dadurch entsteht ein konstruktivistisches räumliches Bild, das den Schattenwurf nicht wissenschaftlich und damit auch nicht rechnerisch nachprüfbar, sondern intuitiv ausnutzt und dem Maler Reinhard Wöllmer die Chance bietet, die überkommene Definition vom Bild, als Ordnung von Farben auf der Fläche zu erweitern. Farbe und Farbträger werden eins. Räumlichkeit wird nicht aufgrund von Perspektive sichtbar, sondern als natürliche Ergebnis, wenn zwei Hohlkörper ihr Inneres durch eine Öffnung preisgeben. Trotzdem bleibt das Spiel mit der Wahrnehmung des Betrachters spannend.

"So trennte sich für mich das Reich der Kunst immer mehr vom Reiche der Natur" schrieb Kandinsky in seinem "Rückblick" und meinte die Autonomie der Kunst gegenüber der sichtbaren Welt. Für ihn, der einen harten Kampf gegen die traditionelle Abbildhaftigkeit der Kunst und gegen seine eigene symbolistische Vergangenheit geführt hat, war Gegenständlichkeit in der Kunst nur noch als eine Art Reminiszenz, verkörpert durch unterschiedliche Stufen von Abstraktion, möglich. "Der Sog des Entzugs", wie das Johannes Langner genannt hat, brachte Spannung in sein Werk. Reinhard Wöllmer, knapp hundert Jahre nach ihm geboren, hat diese Trennung längst verinnerlicht. Aber trotzdem findet er eine mögliche Synthese. Die zufällige Materialknappheit in einem armen Land wie Mazedonien hat ihm einen Weg der Versöhnung zwischen der Welt der Imagination und der Welt der Realität gewiesen.

Hanne Weskott
München im Mai 1999


Der Katalog wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung von:
Galerie Renate Bender, München
Galerie für Zeitkunst, Bamberg
galerie 13 Fritz Dettenhofer, Feising
© Reinhard Wöllmer

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